Report on "The Sciences as Communication Space between Germany and Russia in the 19th-century" - Leipzig, 30. Sept.-1. Oct. 2010

From: Ortrun Riha
Date: 30.10.2010
Subject: Tagber: Naturwissenschaft als Kommunikationsraum zwischen
Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert
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Langzeitvorhaben an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
"Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und
Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin"
29.09.2010-01.10.2010, Leipzig

Bericht von:
Ortrun Riha, Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der
Naturwissenschaften, Universität Leipzig
E-Mail:

Im Mai 2007 hat das an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
angesiedelte Langzeitvorhaben "Wissenschaftsbeziehungen im 19.
Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie,
Pharmazie und Medizin" die Arbeit aufgenommen. Mittlerweile sind drei
Bände der dafür neu eingerichteten Schriftenreihe "Relationes"
erschienen, die sich exemplarisch mit unterschiedlichen Teilgebieten des
Gesamtkomplexes beschäftigen.[1] Um das Projekt darüber hinaus
international bekannt zu machen und Kontakte zu WissenschaftlerInnen mit
ähnlichen Arbeitsgebieten zu knüpfen bzw. zu vertiefen, wurde in
Kooperation mit dem Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und
der Naturwissenschaften an der Medizinischen Fakultät der Universität
Leipzig eine Tagung unter dem Titel "Naturwissenschaft als
Kommunikationsraum zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert"
organisiert. Diese fand vom 30. September bis 1. Oktober 2010 in der
Universitätsbibliothek Leipzig statt und wurde am 29. September mit
einem öffentlichen Abendvortrag eingeleitet. Darin verglich DIETRICH VON
ENGELHARDT (Lübeck) besonders die deutsch-italienischen
Wissenschaftsbeziehungen der Goethezeit mit den Verbindungen nach
Russland. Das thematische Spektrum der Beiträge war absichtlich weiter
gefasst, als es der Projekttitel vorgibt, so dass neben Medizin-,
Chemie- und Pharmazie- auch Zoologie-, Botanik- und
Psychologiegeschichte mit je einer eigenen Sektion vertreten waren
(Einzelheiten in der Programmübersicht am Ende dieses Textes). Dem
Anliegen des Vorhabens entsprechend, war der "rote Faden" zwischen den
thematisch diversen Beiträgen die naturwissenschaftliche Fundierung der
jeweiligen Disziplinen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die
Durchsetzung dieses neuen Paradigmas wurde einerseits ideengeschichtlich
dargestellt (SAULO ARAUJO, Juiz de Fora; ERKI TAMMIKSAAR, Tartu; THOMAS
SCHMUCK, Leipzig; EDUARD I. KOLCHINSKY, St. Petersburg). Hauptsächlich
aber wurde auf persönliche Verbindungen (CHRISTOPH FRIEDRICH, Marburg;
ANASTASIJA A. FEDOTOVA, St. Petersburg; MARINA J. SOROKINA, Moskau), die
institutionelle Etablierung (NADEŽDA V. SLEPKOVA, St. Petersburg) und
einschlägige Publikationstätigkeit (ANNA ANANIEVA, Mainz; GISELA BOECK,
Rostock) abgehoben: Als Kristallisationspunkte der deutsch-russischen
Wissenschaftskontakte (mit einem besonderen Schwerpunkt auf der
Herausbildung von "Schulen") wurde zu Recht die "erste Garde" der
deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts präsentiert, der Physiologe
Emil Heinrich Du Bois-Reymond (VLADIMIR A. ABASNIK, Char'kov), der
Internist Karl Johann von Seidlitz (GALINA KICHIGINA, Toronto), der
Chemiker Friedrich Konrad Beilstein (ELENA ROUSSANOVA, Hamburg), der
Zoologe Otto Bütschli (SERGEJ I. FOKIN, St. Petersburg) sowie Wilhelm
Ostwald als Begründer der Physikalischen Chemie (ELENA ZAITSEVA-BAUM,
Moskau). In der Hygiene spielte Max von Pettenkofer eine zentrale Rolle
(FLORIAN STEGER, München), und dieses Fach erwies sich während der
Tagung für die unterschiedlichsten Ansätze als besonders ergiebig - kein
Wunder, stellte es doch eine neue Leitwissenschaft dar, die auf
gesicherter naturwissenschaftlicher Grundlage zum einen präventiv
wirksam sein wollte (KONSTANTYN K. VALSYLYEV, Sumy). Zum andern
versprach die neue Hygiene die Lösung nicht nur medizinischer (VLADIMIR
S. SOBOLEV, NATAL'JA E. BEREGOJ, beide St. Petersburg), sondern auch
sozialer und gesellschaftlicher Probleme: So rückte das
sozialmedizinische Engagement vieler Ärzte in den Blick (LUTZ HÄFNER,
Göttingen; REGINE und GERD PFREPPER, Leipzig), das - wie das Beispiel
der Eugenik zeigt (BJÖRN M. FELDER, Lüneburg) - aus heutiger Sicht auch
durchaus dunkle Seiten aufweist.

Der überwiegend dokumentierenden, reiches Material erschließenden
Herangehensweise trug eine eigene prosopographische Sektion noch einmal
explizit Rechnung, denn im Akademienprogramm sowohl des
deutschsprachigen Raums als auch in Russland (liefen und) laufen
aufwendige biobibliographische Arbeiten zur Erfassung der Akteure im
Wissenschaftsbetrieb: An der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
wurde der monumentale "Poggendorff" als biobibliographisches Handbuch
für den Bereich der exakten Naturwissenschaften erarbeitet; darüber
berichtete HEINER KADEN (Leipzig) zu Beginn der Tagung. Im Rahmen des
Projekts zu den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 19.
Jahrhundert entsteht ein wohl mittelfristig online zugängliches Lexikon
der Wissenschaftler, die dabei eine wichtige Rolle spielten und das
MARTA FISCHER (Leipzig) anhand des gerade fertiggestellten Moduls zu den
Leibärzten vorstellte. DANIELA ANGETTER (Wien) präsentierte ein
ähnliches Projekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, das
in Kooperation mit der Universität Lviv schon erste Ergebnisse vorweisen
kann. Und unter Federführung von VLADIMIR A. VOLKOV und MARINA V.
KULIKOVA (Moskau) wurde soeben der vierte Band des biographischen
Lexikons der Professoren des Russischen Zarenreichs herausgebracht. Der
diesbezügliche Austausch von Erfahrungen und Informationen über etwas
abgelegenere Quellen sowie die Diskussion zweckmäßiger Herangehensweisen
waren ein wichtiges und trotz heterogenen Erkenntnisinteresses auch
erreichtes Ziel der Tagung; die Ergebnisse dürften von allgemeinerem
Interesse sein und werden in einem Konferenzband publiziert werden, der
sowohl die zahlreichen Detailbeobachtungen als auch das konzeptionelle
bzw. methodische Vorgehen für ein interdisziplinäres Publikum
präsentieren wird und damit sowohl die Sozialgeschichte als auch die
Wissenschaftsgeschichte im Auge hat.

Ideen- und Kulturtransfer sowie damit verbundene Konflikte und
Veränderungen sind ein etablierter Forschungsgegenstand, mit dem sich
seit Jahren eine ganze Reihe von Projekten beschäftigt. Obwohl das
Programm sehr dicht und vielfältig war, waren vor diesem Hintergrund das
geringe Echo seitens der Historikerzunft und die fehlende Resonanz bei
den Kulturwissenschaften enttäuschend, denn aus Sicht der Veranstalter
wäre eine solche interdisziplinäre Kontextualisierung durchaus erwünscht
und für den Ertrag zusätzlich erhellend gewesen. Die Erweiterung der
methodischen Annäherung und der Fragestellungen hätte eine übergreifende
Interpretation der zunächst einmal nur nebeneinanderstehenden Beispiele
aus den Naturwissenschaften ermöglicht und auf der anderen Seite auch
für die Geisteswissenschaften eine ungewohnte Facette eröffnet. Es war
deshalb ein Grundsatzreferat von MATTHIAS MIDDELL (Leipzig) ins Programm
genommen worden, das eine Überblicksdarstellung anbot, die die
binationale Sichtweise komparatistisch um die französische Seite
erweiterte, dadurch eine europäische Perspektive ins Spiel brachte und
den allgemeinen historischen Hintergrund mit seinen Unwägbarkeiten,
Konjunkturen und wechselnden Ressentiments bewusst machte. In den
Referaten fiel zunächst eine bemerkenswerte Zurückhaltung gegenüber
Wertungen und Verallgemeinerungen auf, obwohl auch Konflikte zur Sprache
kamen (FLORIAN MILDENBERGER, Frankfurt an der Oder; NADEŽDA V. SLEPKOVA,
St. Petersburg). Möglicherweise erlaubt der erreichte Forschungsstand
trotz der vielen punktuellen Erkenntnisse tatsächlich noch keine
Beschreibung gesicherter Entwicklungslinien. Die in den Diskussionen
vorgebrachten Argumente scheinen jedenfalls zur Vorsicht gegenüber
übereilten Schlüssen zu mahnen, zu groß sind offenbar die lokalen und
fachbezogenen Unterschiede, die keineswegs harmonisierend übertüncht
werden sollten.

Konferenzübersicht:

Öffentlicher Abendvortrag:
DIETRICH VON ENGELHARDT (Lübeck): Deutsch-russische
Wissenschaftsbeziehungen um 1800 im europäischen Kontext.
Übereinstimmungen und Unterschiede

Eröffnung:
ORTRUN RIHA (Leipzig): Einführung in die Tagung

HEINER KADEN (Leipzig): Zur Vorgeschichte des Akademie-Projekts
"Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und
Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin"

Sektion I: Psychologie und Psychiatrie

SAULO DE FREITAS ARAUJO (Juiz de Fora, Brasilien): Auf der Suche nach
einem neuen Begriff von wissenschaftlicher Psychologie: Vladimir M.
Bechterevs (1857-1927) Auseinandersetzung mit der Psychologie Wilhelm
Wundts (1832-1920)

FLORIAN MILDENBERGER (Frankfurt an der Oder): Emil Kraepelin (1856-1926)
in Dorpat: Psychiatriereform im Kontext panslawistischer Bestrebungen

SUSANNE GUSKI-LEINWAND (Heidelberg): Alexander Necaev und die
experimentelle pädagogische Psychologie

NATAL'JA JU. MASOLIKOVA (Moskau):Die russische psychologische
Gesellschaft und die Leipziger Universität (Ende des 19. - Beginn 20.
Jahrhundert)

Sektion II: Hygiene - Eine neue Leitwissenschaft

FLORIAN STEGER (München): Max von Pettenkofers (1818-1901) Verbindungen
zu russischen Hygienikern

VLADIMIR S. SOBOLEV (St. Petersburg): Prophylaxe und Behandlung von
Infektionskrankheiten in der Kriegsmarine Russlands (2. Hälfte des 19.
Jh.)

KONSTANTIN K. VASYLYEV (Sumy, Ukraine): Die Rolle der Deutschen in der
vorsowjetischen Geschichte des Kurortes Odessa

LUTZ HÄFNER (Göttingen): Sozialpolitik und Hygiene in der Provinz:
Europäischer Wissenschaftstransfer am Beispiel der Saratover
Ärztegesellschaft

Sektion III/IV: Eine neue Grundlegung der Medizin

VLADIMIR A. ABASNIK (Char'kov, Ukraine): Die Char'kover
Universitätsmediziner und Emil Heinrich Du Bois-Reymond (1818-1896)

GALINA KICHIGINA (Toronto): Karl Johann von Seidlitz (1798-1885) and the
Rise of Russian Clinical Science

NATAL'JA E. BEREGOJ (St. Petersburg): German Veterinarians in Russia in
the 19th Century and the First Scietific Society of Veterinarians in St.
Petersburg

ERKI TAMMIKSAAR (Baer-Museum, Tartu, Estland): Die "Weltanschauung" Karl
Ernst von Baers

ANNA ANANIEVA (Bonn): "Die Pflege der wissenschaftlichen Literatur ist
die vornehmste Aufgabe des Buchhändlers" - Die Beziehungen der
Russischen Akademie der Wissenschaften zu dem Verlagshaus Voß in
Leipzig

BJÖRN M. FELDER (Lüneburg): Der Bakteriologe Evgenij Sepilevskij und die
Anfänge der Eugenik in Russland

Keynote-Vortrag:
MATTHIAS MIDDELL (Leipzig): Das Wissenschaftsdreieck
Deutschland-Frankreich-Russland

Sektion V: Chemie

ELENA ROUSSANOVA (Hamburg): Friedrich Konrad Beilsteins (1838-1906)
Beitrag zum Wissenschaftsaustausch zwischen Deutschland und Russland auf
dem Gebiet der Chemie

GISELA BOECK (Rostock): Die Rezeption des Periodensystems im schulischen
Chemieunterricht in Deutschland (1880-1920)

REGINE PFREPPER (Leipzig): Gustav von Bunge (1844-1920) - Physiologische
Chemie und Sozialhygiene in Dorpat und Basel

ELENA A. ZAITSEVA-BAUM (Moskau): Ivan S. Plotnikov (1878-1955) - Gründer
des ersten fotochemischen Laboratoriums in Russland. Wilhelm Ostwalds
(1853-1932) Einfluss auf die Anfänge einer physikalisch-chemischen
Schule an der Moskauer Universität

Sektion VI: Zoologie

THOMAS SCHMUCK (Leipzig): Of Bones and Beasts: Christian Heinrich Pander
(1794-1865) on Metamorphosis and Evolution

EDUARD I. KOLCINSKIJ (St. Petersburg): Deutsche Spuren im russischen
Evolutionismus des 19. Jahrhunderts

NADEŽDA V. SLEPKOVA (St. Petersburg): "Russian" and "German" Parties at
the Imperial Academy of Sciences in St. Petersburg: Problems in the
Development of the Zoological Museum

SERGEJ I. FOKIN (St. Petersburg): Otto Bütschli's (1848-1920) Heidelberg
Scientific School and Russian Zoologists at the End of the
19th/Beginning of the 20th Centuries

Sektion VII: Pharmazie und Botanik

CHRISTOPH FRIEDRICH (Marburg): Der Einfluss deutscher Apotheker auf die
Pharmazie in Russland im 18./19. Jahrhundert im Spiegel der
deutschsprachigen Pharmaziegeschichtsschreibung

ANASTASIJA A. FEDOTOVA (St. Petersburg): Die botanische Geographie in
Russland: Das deutsche Fundament und die Entwicklung zur
Selbstständigkeit

Sektion VIII: Prosopographien

MARINA JU. SOROKINA (Moskau): Schnittpunkt der Schicksale: Deutschland
und deutsche Wissenschaftler im Leben und wissenschaftlichem Werk des
Akademiemitglieds Vladimir Vernadskij (1863-1945)

MARTA FISCHER (Leipzig): Chemie, Pharmazie und Medizin in der
Wissenschaftsgeschichte: Das biobibliographische Lexikon zu den
deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert

DANIELA ANGETTER (Wien): Medizin und Pharmazie an der Universität
Lemberg/Lviv (Österreichische Periode, 1784-1918). Bericht über ein
Forschungsprojekt

VLADIMIR A. VOLKOV; MARINA V. KULIKOVA (Moskau): Die Erstellung eines
mehrbändigen biografischen Lexikons der Professoren des Russischen
Zarenreichs

Anmerkung:
[1] Heiner Kaden / Ortrun Riha (Hrsg.), Studien zu Carl Julius Fritzsche
(1808-1871) und Il'ja Il'ic Mecnikov (1845-1916). Quellenarbeit in der
Wissenschaftsgeschichte, Aachen 2008 (Relationes 1); Thomas Schmuck,
Baltische Genesis. Die Grundlegung der Embryologie im 19. Jahrhundert,
Aachen 2009 (Relationes 2); Regine Pfrepper, Lebensvorgänge.
Deutsch-russische Wechselbeziehungen in der Physiologie des 19.
Jahrhunderts, Aachen 2009 (Relationes 3).

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